Gegen die Angst

In Esfurt ist ein kleiner Bach zu einer Naturgewalt geworden. Bilder von unterspülten Strassen, freigelegter Kanalisation, weggeschwemmten Weizenfeldern und neuen Tälern, wo vorher noch ebenes Landwirtschaftsland lag, von verzweifelten Menschen und völlig zerstörtem Hab und Gut vermitteln uns einen Eindruck davon, was der Begriff «Klimakatastrophe» für uns noch so bedeuten könnte. Die Bilder lassen einem das Blut in den Adern gefrieren. Aber Angst lähmt, und Lähmung können wir im Moment gar nicht brauchen. 

Deshalb hier meine Überlegungen und gesammelten Erkenntnisse. Dazu muss ich sagen: Ich bin nicht Naturwissenschaftlerin (sehr, sehr schlechte Noten in der Mittelschule), aber ich interessiere mich für Naturwissenschaft und Wissen allgemein. 

Frederic Vester hat in seinem Buch, «Die Kunst, vernetzt zu denken» (Frederik Vester, 2000, Stuttgart), sein Fachgebiet, die Kybernetik, vorgestellt und aufgezeigt, wie man sehr komplexer Systeme Herr werden kann. Er beschreibt darin, wie er zu Übungszwecken mit seinen Studenten einen Regelkreis «Klimanetzwerk» aufgestellt hatte. Sie identifizierten 21 Schlüsselfaktoren mit 54 negativen und 30 positiven Rückkoppelungen, ein kompliziertes, nicht leicht überschaubares Konstrukt mit Variablen wie ‘Phytoplanktonaktivität’ und ‘Einsatz fossiler Energien’, ‘Meeresspiegelanstieg’ und ‘Agrarproduktion’. Wenn so ein Netz aufgestellt ist, kann man an den einzelnen Variablen «herumschrauben». So kann herausgefunden werden, was zu welchen Auswirkungen führt. 

Zu ihrem grossen Erstaunen fanden sie heraus, dass man an beliebigen Variablen herumschrauben konnte, ohne dass es zu einer Verbesserung der Situation, zu einer Stabilisierung gekommen wäre. 

Es gab nur eine einzige Variable, die eine völlig andere Situation erzeugte: 

Die Variable «Verhaltensänderung». 

Ohne eine Veränderung des Verhaltens des Menschen, der Haltung des Menschens war ein Aufschaukelungsprozess und ein Kippen des Systems ins Chaos nicht aufzuhalten. Als ich das zum ersten Mal las, bekam ich den Eindruck, als würden wir hier in einer riesigen Versuchsanordnung leben: Wir Menschen müssen gemeinsam etwas lernen. Unsere Umwelt, alles, was wir sehen, ist so angelegt, dass wir wie in einem Schullabor unsere Lernziele erreichen können und sollen.

Anton Zeilinger hat mich mit seinen Büchern über Quantenphysik beeindruckt, weil er es geschafft hat, über dieses so schwierige Thema so zu schreiben, dass eine naturwissenschaftliche Schulversagerin wie ich das Gefühl hatte, eine kleine Ahnung von den bahnbrechenden Erkenntnissen dieses neuen Wissenschaftszweigs zu erhalten. Wenn man die Quantenphysik ernst nimmt, und das müssen wir Benutzer:innen von Händys und Computern eigentlich zwangsläufig, dann müssen wir die drei Beobachtungen, die Anton Zeilinger am Ende seines Buches «Einsteins Spuk» (Anton Zeilinger, 2005, München) aufzählt, ebenfalls ernst nehmen:

  • «Der Zufall des quantenmechanischen Einzelereignisses kann interpretiert werden als die Freiheit der Natur uns die Antwort zu geben, die ihr beliebt. Da das Messresultat in keiner Weise festgelegt ist, auch nicht in verborgener Weise, heisst dies, die Natur ist nicht festgelegt, auch nicht in einer verborgenen Weise.» (S. 338)
  • «Offenbar spielt das, was wir über die Welt sagen könnten, eine wichtige Rolle nicht nur bei der Formung des Bildes, das wir von der Welt haben, sondern auch eine wichtige Rolle dabei, was Wirklichkeit sein kann, was sich im Experiment über das Messergebnis als Wirklichkeit manifestiert.» (S.339)
  • «Unsere Welt ist also einerseits freier, als dies die klassische Physik zugelassen hat. In diese Welt sind wir aber auch stärker eingebettet, als dies dort der Fall war.» (S. 340)

Schliesslich noch eine anekdotische Erzählung, zu der ich keine Quellenangabe machen kann, die ich nur aus der Erinnerung erzählen kann, die mich aber damals ebenfalls sehr beeindruckt hat.

Vor einigen Jahren mussten die Bewohner einer Gegend feststellen, dass ihr See tot war, zu sehr verschmutzt von Düngern und Abwässern, Giften und Abfall. Die Menschen reagierten betroffen und traurig. Sie wussten, es würde ewig dauern nach menschlichem Ermessen, bis sich die Natur wieder halbwegs erholen würde. Experten rechneten mit mindestens 40 Jahren, bis wieder einigermassen Leben zurückkehren könnte. Aber alle waren auch gewillt, alles Menschenmögliche zu unternehmen, um der Natur zu helfen. Technik kam zum Einsatz, der See wurde mit Sauerstoff belüftet, Schutzzonen wurden errichtet, Abwässer in Kläranlagen umgeleitet, Abfall entfernt… zum Erstaunen aller war schon nach fünf Jahren eine so deutliche Verbesserung zu erkennen, dass man nicht mehr von einem toten See sprechen konnte! Sobald die Menschen ihre Haltung geändert hatten, war die Natur in der Lage, ihnen auch eine andere Antwort zu geben, und zwar so schnell, wie Menschen das nicht für möglich gehalten hätten.

Seit 40 Jahren ist mir Nachhaltigkeit und Umweltschutz (eigentlich ja Menschenschutz, Esfurt hat es wieder deutlich gezeigt: Die Natur kann auch ohne uns…) ein wichtiges Anliegen.

Seit 40 Jahren verzweifle ich immer wieder von Zeit zu Zeit, weil NICHTS passiert. Menschen haben tausend Ausreden und Ausflüchte, wenn es ums Handeln geht. 

Gleichzeitig ist mir vor einiger Zeit bewusst geworden: Die Erde rechnet nicht in Jahrzehnten, sie rechnet in Jahrzehntausenden, in Jahrmillionen.

Das heisst für mich:

Wenn unsere Mutter Erde, die offensichtlich ihre Kinder liebt und stolz auf sie ist, merkt, dass wir zu verstehen beginnen, dass wir Teil eines Ganzen sind, dass wir niemanden und nichts schädigen können, ohne uns selbst zu schaden, dass wir deshalb lernen, mit allem, was hier ist zu leben und nicht gegen alles, dass wir unsere Haltung der Natur und unseren Mitwesen gegenüber zu verändern und gemäss unserer neuen Erkenntnisse auch zu handeln beginnen, 

dann wird die Natur, dann wird Mutter Erde uns auch eine andere Antwort geben können, als sie das bisher tut, und wir schaffen es doch noch, das Paradies auf Erden wieder zu finden.

Aber sie muss sehen, dass wir es wirklich gecheckt haben.

Zum Beispiel, indem wir andere Werte als Konsum entwickeln.

Keine Menschen oder Tiere mehr dem Profit oder Egoismus opfern.

Rücksicht nehmen auf andere Wesen und Bedürfnisse.

Nachhaltigkeit über kleinkindliche Lustbefriedigung stellen.

Darauf verzichten, aus Rücksichts- oder Gedankenlosigkeit Schaden anzurichten.

Ob das im Umgang mit Pestiziden auf Landwirtschaftsland, im Umgang mit Arbeitssklaven für günstige Konsumartikel, im Umgang mit Reisen oder Tiefseefischerei, im Umgang mit Regenwald, im Umgang mit Flüchtlingen auf dem Mittelmeer oder wo auch immer ist: Die Möglichkeiten, unserer Mutter Erde zu zeigen, dass wir ernsthaft gewillt sind, unsere Haltung und uns selbst zu ändern, sind zahllos. 

Packen wir’s an! 

Literaturverzeichnis:

Frederik Vester, «Die Kunst vernetzt zu denken. Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität», 2000, Stuttgart: DVA.

Anton Zeilinger, «Einsteins Spuk. Teleportation und weitere Mysterien der Quantenphysik», 2005, München: C. Bertelsmann.